So gut wie jeder hat es schon erlebt. Und noch viel mehr haben schon davon gehört. Multi Level Marketing. Networkmarketing. Pyramidenfirma, Strukturvertrieb oder Schneeballprinzip. Der einfache Weg zum Reichtum.
„Ist ihr Arbeitsplatz krisensicher? Jeder ist ersetzbar. Beugen sie dem Bankrott
im Alter vor!“
„Kleiner Nebenverdienst oder lieber das große Geld? Wir haben das passende
Angebot, auch für sie!“
„Sie wollen komplett über den Tisch gezogen werden? Gehirnwäsche inklusive?
Lieber als Kunde oder als Mitarbeiter? Entscheiden sie selbst!“
Es ist faszinierend, mit welcher Schamlosigkeit mit dem Glauben der Menschen
an das Gute, verbunden mit dem derzeitigen finanziellen Notstand des Großteils
unserer Bevölkerung, Schindluder betrieben wird.
Ich habe es höchstpersönlich gesehen und muss sagen: Genialität und Abschaum
liegen auch in diesem Geschäft so nah beieinander wie Lüge und Wahlversprechen
in der Politik.
Und so fängt es meistens an: Man ist in der Ausbildung, dem Studium oder
in eine andere Richtung auf jeden Cent angewiesen. Und plötzlich hört man über
einen Freund, Bekannten, Verwandten, im schlimmsten Fall von einem fremden MLM-Opfer
an der Haustür oder am Telefon von einem bahnbrechendem Produkt. Sei es eine
Versicherung, ein Nahrungsmittelergänzungsprogramm, eine Zeitung, Parfüm oder
Pflegemittel auf rein natürlicher Basis, eine Immobilie, fast für umsonst oder
sonst irgendeinem Wunder. Und wenn man sich nicht augenblicklich darüber informieren
lässt, hat man sowieso schon so gut wie verloren. Es kann einem nicht mehr geholfen
werden.
Oder, vergessen sie alles! Sie besuchen sofort ein Seminar! Plötzlich ist
das eben noch angepriesene Produkt völlige Nebensache. Es gilt nun vielmehr,
sie zum absolut erfolgreichen Mega-Team-Manager, Supervisor oder ähnlich anmutig
klingendem „Etwas“ auszubilden. Und das ganze während eines Seminars, das bestenfalls
über zwei Wochenenden geht. Danach steht ihnen die Welt offen. Werden sie reich.
Aber vorher müssen sie natürlich ein wenig investieren. Nicht viel. Lediglich
für die Verpflegung, die ihnen auf ihrem Seminar zu Gute kommt. Dass in dieser
horrenden Summe wirklich nur das Essen für das Seminar inbegriffen ist, und
nicht etwa das komplette Lehrmaterial sowie sonstige, durch sie anfallende Kosten,
plus eines kleinen Obolusses ist ja wohl Ehrensache. 125,- Euro für ein 2-Gänge
Menü, welches eher nach 18,90 Euro aussah. Was ist das schon? Sie sind doch
jetzt was besseres.
Sie lachen? Oder sie weinen, weil sie wissen, wovon ich hier schreibe? Oder
sie haben ein Fragezeichen über dem Kopf, weil sie mit so vielen Informationen nichts
anfangen können?
Ich möchte es ihnen erklären. Zum Mitschreiben.
Irgendwann wird es auch Ihnen passieren. Ein Mensch, den sie mehr oder weniger
gut kennen ruft sie an und möchte einen Termin mit Ihnen vereinbaren. Er hat
wertvolle Informationen für sie, über eine „Sache“, die er am Telefon lieber
nicht mit ihnen besprechen möchte. Es wird ihnen vorkommen, wie in einem schlechten
Krimi. Ab einem gewissen Punkt des Gespräches wird er dann darauf pochen, einen
Termin mit ihnen zu vereinbaren. Und er wird ihnen vorsichtshalber mitteilen,
dass er nicht allein kommen wird. Sein Trainer, Coach oder Team-Operator (ich
nenne ihn „Aufpasser“) wird ihn begleiten. Nur zur Sicherheit. Immerhin befindet
man sich noch in einer Art „Ausbildung“.
Und sie sollen nichts kaufen. Um Gottes Willen! Lediglich eine Information
erhalten. Sie stimmen also zu und ein paar Tage später haben sie die zwei Quälgeister
bei sich zuhause sitzen. Je nachdem, wie weit ihr Bekannter schon besessen
ist, wird er ihnen, etwas unsicher in der Wortgewandtheit, etwas anbieten, was
es nur bei dieser Firma zu erwerben gibt. Alle anderen Anbieter eines ähnlichen
Produktes werden für sie nach diesem Gespräch gestorben sein. Sein Aufpasser
wird ihn nur ab an ein wenig verbessern oder etwas beifügen. Langsam dämmert
es ihnen. Wenn sie ehrlich zu sich sind: Ihr Bekannter war schon beim vorhergegangenen
Telefonat kaum wieder zu erkennen, als er Ihnen, voller Euphorie, dem Orgasmus
nahe, von einer Begegnung erzählte, die fortan sein komplettes Leben verändern
würde.
Würden sie mir glauben, wenn ich hier schreibe, dass dieses Telefonat zur
Bestimmung eines Termins von ihrem Gegenüber gesteuert wurde? Dass er eine
Liste mit möglichen Ausflüchten ihrerseits und passenden Antworten seinerseits
vor sich liegen hatte? Sie unter Umständen gar nicht merkten, wie schnell sie
einen Termin aufs Auge gedrückt bekommen haben?
Genau jetzt ist der Punkt, an dem sie die Katze aus dem Sack lassen sollten.
Schmeißen sie die Beiden umgehend raus, und zwar mit Gebrüll. Und verzeihen
sie ihrem Bekannten. Er ist nicht mehr er selbst.
Auch er hat sich von einem Bekannten einlullen lassen. Und noch viel mehr.
Er hat unterschrieben. Und sich anschließend zu einem Seminar angemeldet. Einem
Seminar, bei dem er ausgebildet wird. Ausgebildet zum, …sie wissen schon, Supervisor,
Chief-Operator, Sheriff, blablabla. Wohlgemerkt, EIN Seminar!!! Noch ein paar
vereinzelte Schulungen unter der Woche und in einem Monat gehört ihm die Welt.
Wofür einige Menschen mehrere Jahre lernen, gar studieren, wird ihm hier
im Handumdrehen, in nur wenigen Tagen beigebracht.
Diese Seminare werden von Menschen geführt, die so einnehmend sprechen können,
dass sie einen Preis bekommen müssten. Der Begriff „Rhetorik“ scheint ihnen
ins Gehirn gebrannt. Bei manchen von denen hat man schnell das Gefühl, diese
Menschen können nur noch so sprechen, dass sie ihnen die Antworten gleich mit
der Frage in den Mund legen. Und zwar genau die Antworten, die diese Leute unbedingt
hören wollen.
„Sie tragen doch bestimmt auch gern gute Kleidung, oder?“
„Wollen sie Ihrer Familie nicht auch etwas schönes bieten?“
„Ist es nicht besser, etwas mehr als der Durchschnitt zu haben?“
„Sie wären doch schön blöd, wenn sie sich so viel Geld entgehen lassen würden,
nicht?“
Frei nach dem Motto: „Stimmt´s oder hab´ ich Recht?“
Sollten sie über einen gefestigten Charakter verfügen, bitte, besuchen sie ein solches Seminar. Es gibt durchaus MLM-Firmen, die diese Seminare kostenlos anbieten. Es ist erstaunlich, wie sehr diese „Anführer“ einem die Sicht der Dinge nehmen, sie zerquetschen, neu aufbereiten und ihnen anschließend wieder zukommen lassen. Völlig verdreht. Plötzlich scheint alles so selbstverständlich.
„Alle anderen Menschen, die ihnen von einer Karriere in diesem Unternehmen
abraten sind negativ eingestellte Neider, die sie in Ihrer Laufbahn behindern
wollen.“
„Sie müssen wissen, ob und vor allem, wann sie den Erfolg wollen!“
„Leben sie das Produkt 24 Stunden am Tag. Und seinen sie darauf eingestellt,
dass die ersten Schritte hart werden. Geld fällt nicht einfach so vom Himmel.“
Und ab einem gewissen Zeitpunkt werden sie dann alle unverschämt, noch aufdringlicher und wollen von dem schön angepriesenen Leben als Erfolgsmensch nichts mehr wissen.
Plötzlich geht es nur noch darum, Namen zu nennen. Namen von Verwandten und Bekannten, die man kontaktieren muss, um sich seinen eigenen kleinen Kundenstamm aufzubauen. Und das in einer Art, in der sie von keiner der Personen, die sie anrufen, wieder erkannt werden.
Wissen Sie noch, Ihr Bekannter? Euphorie? Orgasmus? Die Liste mit Ausflüchten und Entgegnungen, die ich bereits erwähnt habe?
Und auch das große Geld in kurzer Zeit rückt in weite Ferne. Es hieß, sie könnten sich Ihre Arbeitszeit selbst einteilen.
„Ich weiß ja nicht, was sie darunter verstanden haben. Aber es dürfte doch klar sein, dass mit unter 8 Stunden Arbeit pro Tag keine 5000 Euro im Monat zu verdienen sind.“
Wachen sie auf! MLM ist die teure Variante, alten Frauen legal die Handtasche zu klauen…
Jedes Jahr gerät eine neue Generation in die Klauen psychisch durchgedrehter
MLM-Roboter. Seien es Schulabgänger, Zivildienstleistende oder Rekruten der
Bundeswehr. Hausfrauen, Studenten, sogar vor Arbeitslosen wird kein Halt gemacht.
Menschen, die ihr letztes Geld dafür aufbringen müssten, um nicht auf die Strasse
abzurutschen. Und jetzt sollen diese armen Hunde ein Seminar bezahlen. Und wenn
alles schief läuft eine Schulungsmappe, Folgeseminare sowie (zumeist bei Lebens-
und Pflegemittelvertrieben) einen Grossteil von Produkten kaufen, die das Unternehmen
anbietet. Um sie dann selber anzubieten. Bei Menschen, die ihnen am Herzen liegen
und die nach einem Beratungsgespräch oft nichts mehr mit dem oder der Betroffenen
zu tun haben wollen. Einer Person, die so fremd daher kam, obwohl es doch ein
Bekannter oder gar ein Familienmitglied war.
Es gibt durchaus vertretbare Produkte, die über MLM vertrieben werden. Mit
Sicherheit kann man selbst auch ganz gut dabei verdienen. Nur, ob man mit MLM
reich wird, wage ich zu bezweifeln. Und, ob man sich morgens noch gern im Spiegel
ansieht…
Dieser Artikel ist eine Mischung aus Kolumne und Erfahrungsbericht. Wobei das oben Beschriebene
noch eine sehr harmlose MLM-Variante darstellt.