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From: Peter Zeller
Subject: Zeller über das Symptom
Date: 1999/10/10
Message-ID: <38006D94.231E2C38@t-online.de>
Newsgroups: de.alt.naturheilkunde
II. Die Wandlung des Symptombegriffs in der Geschichte
Wenn der Mensch krank wird, ändert sich sein Zustand, er fühlt sich
elend, die Temperatur steigt, das Herz klopft, das Hirn schmerzt,
vielleicht verfärbt sich auch die Haut. Der Appetit verläßt ihn, er
legt sich ins Bett und läßt den Arzt rufen.
Die Krankheitszeichen lassen sich oberflächlich einteilen in die
subjektiven, die nur der Kranke verspürt wie Appetitlosigkeit oder
Schmerz, und in die objektiven wie Temperaturanstieg, Pulsanstieg und
Hautverfärbung. Man kann dies als eine klassische Einteilung ansehen,
wie sie von den alten Ärzten benutzt wurde. Die alten Ärzte waren zur
Ermittlung der Symptome auf ihre Hände und ihre fünf Sinne angewiesen,
und zu Hahnemanns Zeiten hatte sich daran nichts geändert. Die
Symptome waren das wesentliche, anderes hatte man nicht. Die Symptome
waren so wesentlich, daß sie nicht mehr nur äußeres Erscheinungsbild
der Krankheit waren, sie wurden mit der Krankheit gleichgesetzt, sie
waren die Krankheit selbst. So sind, was verständlich ist, die alten
Krankheitslehren als rein symptomorientierte Methoden konzipiert
worden, die wechselnde Kombination der Symptome ist die jeweilige
Krankheit. Wie diese Symptome tatsächlich zustandekommen, darüber
konnte man sich keine Gedanken machen, weil das gesamte dazu
notwendige Wissen fehlte.
Die Gleichsetzung von Symptom und Krankheit kritisiert z. B.
HAHNEMANN bei den zeitgenössischen Ärzten, die glaubten, diese geheilt
zu haben, wenn sie die Symptome durch äußere Anwendungen beseitigen.
Dies sei aber nur ein scheinbarer Erfolg, weil „das innere Übel nun
schlimmer an einer edlern und bedenklichern Stelle auszubrechen
genöthigt sei".
Ergänzend muß man sagen, daß die schließlich ergriffenen
therapeutischen Maßnahmen sich nicht nach den Symptomen richteten,
sondern nach dem Zufallsprinzip.
HAHNEMANNs eigener Symptombegriff ist nicht eindeutig. Einerseits
sind die Symptome, „dieses nach außen reflectirende Bild des innern
Wesens der Krankheit, d. i. des Leidens der Lebenskraft" (Organon §
7.), äußere Zeichen der inneren Krankheit, andererseits repräsentieren
sie doch wieder die Krankheit, so daß das Verschwinden der Symptome
bei seiner inneren Behandlung ein Beweis für die Abheilung der
Krankheit ist: „§. 8. Es läßt sich nicht denken, auch durch keine
Erfahrung in der Welt nachweisen, daß, nach Hebung aller
Krankheitssymptome und des ganzen Inbegriffs der wahrnehmbaren
Zufälle, etwas anderes, als Gesundheit, übrig bliebe oder übrig
bleiben könne, so daß die krankhafte Veränderung im Innern ungetilgt
geblieben wäre." Für Hahnemann gilt also der Schluß Krankheit bewirkt
Symptom und auch der Umkehrschluß Kein Symptom, keine Krankheit.
Allerdings haben Symptome bei HAHNEMANN eine neue
erkenntnistheoretische Qualität in Richtung des Vitalismus, sie sind
ein Appell an den Behandler, eine Stimme der Krankheit, die sagt Heile
mich!, eine Stimme, die den Weg zur Heilung zeigt.
Die Kritik an seinen Kollegen hindert endlich nicht daran, daß die
Homöopathie der Epigonen zu einer rein symptomorientierten Methode
wird. So braucht die Homöopathie keine Krankheitsdiagnose, ihr genügt
die Symptomenkonstellation.
Nach HAHNEMANN änderte sich das gründlich. Dem Aufschwung der
Naturwissenschaften folgte der Aufschwung der Medizin, mit immer
ausgefeilteren Verfahren gelang es, die Ätiologie und Pathogenese von
immer mehr Krankheiten aufzuklären. Damit änderte sich auch das
Verständnis der Symptome, sie werden sichtbare Zeichen unsichtbarer,
aber meßbarer und damit objektivierbarer und kontrollierbarer
Veränderungen. So ist der Durst ein Symptom beim Zuckerkranken. Die
naive Medizin beläßt es dabei, die moderne Medizin erforscht das
Symptom und kann es schließlich in eine Kausalkette einordnen:
Maßgebend ist der Anstieg der Blutzuckerkonzentration (= meßbarer
Parameter). Dadurch wird Zucker über die Niere ausgeschieden (=
meßbarer Parameter). Damit Zucker ausgeschieden werden kann, benötigt
er zusätzliches Wasser, die Harnmenge nimmt zu: Polyurie des
Zuckerkranken. Der zusätzliche Wasserverlust löst über die erhöhte
Osmolarität des Blutes das Symptom Durst aus. Nach Entdeckung der
Kausalkette müssen wir nun nicht mehr den schlecht quantifizierbaren
Parameter Durst messen, uns genügt der sehr gut quantifizierbare
Parameter Blutzuckerkonzentration.
Mit der weiteren Entwicklung rücken diese meßbaren Parameter in den
Vordergrund, die Symptome verlieren ihr ursprüngliches Gewicht und
ihre führende Stellung, sie konnten noch als Leitsymptome erste
Hinweise geben, genügten aber nicht mehr für eine adäquate Diagnostik.
Das hieß nicht, daß man die Symptome nicht beachten sollte, es hieß
aber entschieden, daß eine bloß symptomorientierte Diagnose
unzureichend ist.
Damit vollzieht sich ein erkenntnistheoretischer Wandel. Wurden die
Symptome bisher nicht nur als Zeichen der Krankheit aufgefaßt, sondern
mit der Krankheit selbst identifiziert, d. h. die Symptome waren
identisch mit der Krankheit, sie waren die Krankheit, dann sind jetzt
die Symptome nur noch zweitrangige Zeichen, die Spitze des Eisbergs
einer Krankheit, die weit umfangreicher ist, als es die Symptome an
der Oberfläche zu vermitteln vermögen.
Die Homöopathie hat diese Entwicklung nicht mitgemacht. Sie hat ihr
Symptomensystem weiter ausgebaut, die Symptome immer weiter unterteilt
und verfeinert, so daß im Bereich der subjektiven Wahrnehmungen durch
den Patienten ein riesiger Symptomenkatalog entstand. Dieser deckt
sich nicht mehr mit den früheren Fünf-Sinne-Symptomen, und er deckt
sich auch nicht mit den Symptomen der heutigen Medizin.
Die Andersartigkeit der homöopathischen Symptome, verglichen mit
denen der klinischen Medizin, illustrieren wir mit Beispielen aus
Schwabe, homöopathisches Repetitorium, 1954:
(1) Aethusa: Krampfdiathese bei Kindern mit Delirien, Reizbarkeit und
soporösen Zuständen. Erbrechen von geronnener Milch, gelb-grüne
schleimige Diarrhoe und Kollapsneigung. Verschlimmerung bei
Sonnenhitze.
(2) Agaricus: Anfangs Erregung, dann Lähmung. Verwirrungszustände mit
Schwatzhaftigkeit und Lachzwang. Rauschzustände. Heiße und kalte
Schweiße, Wallungen. Diffuse Parästhesien wie Eisnadelprickeln,
Muskelzuckungen allerorts. Verschlimmerung morgens, während der Menses
und nach Exzessen.
(3) Apis: Schläfrigkeit, oedematöse Schwellungen, Durstlosigkeit,
Unerträglichkeit von Wärme.
Abschließend noch ein Beispiel, wie ein Präparat bei ganz
unterschiedlichen Krankheiten angewendet werden soll:
(1) Aurum: Stenocardie, Hypertension, Polyglobulie, Arteriosklerose,
Folgen der Lues, Keratitis parenchymatosa, Herpes corneae, Ozaena,
Depressionen, Melancholie. Z.N.S-Störungen verschiedenster Art.
Drüsen- und Hodentuberkulose, Lupus. Myome. Prostatahypertrophie.
Lebercirrhose.
Aurum ist metallisches Gold.
Die Veränderung des Symptombegriffs ergab sich zwangsläufig aus dem
Wissensfortschritt der Medizin. Die Ergebnisse der allgemeinen
Pathologie haben gezeigt, daß die Reaktionsweisen des Körpers auf
pathologische Noxen zahlenmäßig begrenzt sind. Die Zahl der möglichen
Reaktionsweisen liegt dabei weit unter der Zahl der möglichen Noxen.
Verschiedene Noxen können nur mit der gleichen Reaktionsweise
beantwortet werden, so daß aus der Reaktionsantwort nie auf die
tatsächliche Noxe geschlossen werden kann. Es gibt nur wenige
Ausnahmen, die sogenannten spezifischen Reaktionsformen. So kann man
nur aus der Tatsache der Verkäsung spezifisch auf das
Tuberkelbakterium als Verursacher schließen.
Wie vielfältige Ursachen zum gleichen Symptom führen können, zeigen
wir am Syptom Durst:
1. körperliche Anstrengung ® Energieumsatz ® Körpertemperatur ®
Transpiratio zur Abkühlung ® Wasserverlust ® Blutosmolarität ® Durst
2. Infekt = Bakterientoxine ® Verstellung Temperaturregler®
Körpertemperatur ® Perspiratio ® Wasserverlust ® Blutosmolarität ®
Durst
3. Insulinmangel ® Blutzucker ® passiert glomerulären Filter ®
Polyurie: benötigt zusätzliches Wasser wegen Hygroskopie =
Wassserverlust ® Blutosmolarität ® Durst
4. ¯Adiuretin ® Konzentrationsstörung der Niere ® Diabetes insipidus =
Wassserverlust ® Blutosmolarität ® Durst
5. Nierenschädigung ® Nephrose ® Konzentrationsstörung der Niere ®
Polyurie Wassserverlust ® Blutosmolarität ® Durst
Alle Reaktionsfolgen beginnen unterschiedlich und münden dann in eine
gemeinsame Endstrecke. In den Beispielen 3 bis 5 sind die Symptome
Polyurie und Durst immer miteinander verknüpft. Im folgenden Beispiel
ist das nicht der Fall:
6. Seelische Störung ® Trinkzwang = vermehrte Flüssigkeitszufuhr
® Polyurie
Auf solche Unterschiede gründet die Differentialdiagnose. Man sieht
an den Beispielen, daß die kausale Therapie des Symptoms Durst auf
ganz unterschiedliche Weise zu erfolgen hat.
Erkenntnistheoretisch folgt aus der Diskrepanz zwischen der Anzahl
der Ätiopathologien und der Anzahl der Symptome, daß die Sypmtome als
Ausdruck ihrer zahlenmäßigen Begrenztheit nie das sehr viel größere
Spektrum aller Krankheiten abdecken können, was wiederum bedeutet,
daß eine vollständige Krankheitsdiagnose allein aus den Symptomen
nicht möglich ist. Zu Recht lehnt die Medizin derartige Versuche ab,
die Homöopathen wollen dies jedoch nicht zur Kenntnis nehmen. Die
Darstellung zeigt aber, daß die Homöopathie bei ihrer Diagnosefindung
zwangsläufig auf die schiefe Bahn geraten muß.
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