III. Die Wandlung des Krankheitsbegriffs in der Geschichte
Die Unterscheidung von Gesundheit und Krankheit hat in den vergangenen zweitausend Jahren kein Problem dargestellt. Im naiven Weltbild war der Gesunde gesund, der Kranke krank - die beiden Zustände ließen sich leicht auseinanderhalten. Erst in der Moderne tritt das Problem auf:
1.In der parametrisierten Beschreibung des biologischen Systems kann die Frage nach krank oder gesund nur statistisch beantwortet werden oder muß durch eine dann immer in irgendeiner Form willkürliche Definition erzwungen werden.
2.Wenn die Festlegung von krank und gesund durch Definition zulässig ist, können auch Definitionen auftreten, die sich nicht auf die wissenschaftliche Komponente beschränken, sondern diese um eine soziologische Komponente erweitern. Das bedeutet, daß dann in der Definition von gesund und krank soziologische Forderungen enthalten sind, die ja, wie wir bereits früher gezeigt haben, nicht Teil der Naturbeschreibung sind. Die Zulassung einer soziologische Komponente führt zwangsläufig zu einer Vielzahl von Definitionen, die widersprüchlich werden, wenn die soziologischen Forderungen gegensätzlich sind.
Die alten Ärzte hatten damit kein Problem, und noch zu Zeiten Hahnemanns mußte man sich keine Gedanken darüber machen.
In der Darstellung von Sournia ist in der vorgeschichtlichen Zeit der Herrscher zugleich Priester und Arzt. Diese Personalunion spaltet sich dann auf in den Herrscher einerseits und den Arzt-Priester andererseits. Die Nähe zur Religion ist also unverkennbar. Um so mehr erstaunt es dann, daß in dem Moment, als die Ärzte als Ärzte in der Geschichte auftreten, die Ursache von Krankheit nicht im Zorn der Götter oder in religiösen Verfehlungen, sondern in Veränderungen im Körper des Kranken gesucht werden.
Dieses Phänomen, diesen Verzicht auf magische Erklärungsmodelle, wie er bei der hippokratischen Schule gezeigt werden kann, erklärt Topitsch damit, daß bei den Ärzten anders als bei den Philosophen und wie bei den Handwerkern der Erfolg ihres Tuns entscheidend war, den sie letztlich nur durch die Beachtung und Beobachtung der Realität, also durch eine von der Sache her erzwungene Hinwendung zur Empirie als des Kontrapunktes der Spekulation erzielen konnten. Topitsch sieht dabei wohl weniger, daß die Einordnung dessen, was als Beobachtung auftrat, in ein realistisches Beschreibungssystem gar nicht möglich war, weil dieses nicht existierte und das gesamte zu seinem Aufbau notwendige Basiswissen fehlte, so daß jede Einordnung doch wieder zufällig und spekulativ wurde und die unweigerlich daraus gezogenen Schlüsse zu falschen Ergebnissen führen mußten, was sich in der letztlichen Erfolglosigkeit der griechischen Medizin zeigt.
Das Schwergewicht der griechischen Medizin, dies gibt Topitsch recht, liegt zweifellos auf der beschreibenden Darstellung von Krankheitsabläufen und der Auflistung der als vorteilhaft erachteten Heilmaßnahmen, weniger in der Vermutung von Krankheitsursachen, die nicht oder nur beiläufig angesprochen werden. Dann wird die Schwindsucht mit dem Verderb des Phlegmas erklärt oder mit dem Eindringen von Blut und Galle in das Rückenmark. Grundlage solcher Erklärungen ist die Säftelehre (ca. 400 v. Ch.), wo Ungleichgewicht von Phlegma, Blut, gelber und schwarzer Galle zur Krankheit führt, später ist es in der Lehre von den Temperamenten die falsche Mischung aus phlegmatischem, sanguinischem, cholerischem und melancholischem Temperament.
Wenn Sournia in seiner abschließenden Bewertung der hippokratischen Schule (S. 343) sagt: „Dennoch gilt für uns, die wir um das Grundsätzliche bemüht sind, Hippokrates als in die Zukunft weisender Arzt, als Vorläufer aller heute nur weiter differenzierten Spezialwissenschaften der Medizin. Trotz vereinzelter Fehleinschätzungen war er ein an der Erfahrung orientierter, wahrhaft wissenschaftlicher Gelehrter“, dann können wir dieser Einschätzung überhaupt nicht zustimmen; das genaue Gegenteil ist der Fall. Die vollständige Wandlungen der Begriffe Wissenschaft und Erfahrung, die ein Erfolg des modernen Weltbilds sind und die mit ihren Vorläuferbegriffen nichts, aber auch gar nichts gemein haben, wird hier negiert, das moderne Weltbild auf eine bloße Weiterdifferenzierung reduziert. Hippokrates’ Erfahrungs- und Wissenschaftsverständnis ist von dem unseren so weit entfernt wie die sprichwörtliche Kuh von der Atomphysik.
Hippokrates, so er als geschichtliche Person existierte - sonst gilt dies für die Ärzte, die die hippokratische Schule bildeten - war sicher ein Ehrenmann. Als Mensch mag er Vorbild gewesen sein in seiner Bereitschaft, Kranken helfen zu wollen. Ernüchternd muß man aber feststellen, daß Wollen allein nicht genügt.
Hippokrates mag aus seiner Sicht Empiriker gewesen sein. Doch ist bei ihm der Begriff eine Leerformel. Was nützen wenige Daten, wenn sie nicht in ein System, in ein Netz kausaler Beziehungen eingeordnet werden können, weil dieses noch gar nicht geschaffen wurde. Daten ohne Ordnung sind sinnlos; schädlich sind sie, weil sie scheinbar berechtigt zu Schlüssen verleiten, die notwendig falsch sind. Das war nicht seine Schuld. Die Therapie, deren Erfolg den ganzen Sinn der Medizin ausmacht, war bei ihm ein Lotteriespiel, auf scheinbaren Begründungen aufgebaut.
Es ist nicht möglich, in einem biologischen System Entscheidungen zu treffen, wenn nur ein Bruchteil der Daten dieses Systems bekannt ist. Entscheidungen sind dann nicht wirklich Entscheidungen, sondern willkürliche Handlungen, die bestenfalls einen Zufallstreffer erzielen können.
Weil sich die damalige und die heutige Medizin fundamental unterscheiden, ist es nicht richtig und wissenschaftlich unlauter, Hippokrates als einen wahren Vorläufer der heutigen Medizin und die moderne Medizin als eine bloße Weiterentwicklung und Weiterdifferenzierung der alten Medizin darzustellen.
Wissenschaft beginnt mit dem Sammeln von Daten: 1. Schritt, Phase der Deskription. Erst wenn eine große Zahl von Daten vorhanden ist, können ihre Beziehungen zueinander untersucht werden: 2. Schritt, Phase des Experiments. Deren Darstellung als Kausalnetz (monokausal, plurikausal, statistisch gesetzmäßig) ist der 3. Schritt: Phase der Theorie. Zuletzt, im 4. Schritt, können wir darüber nachdenken, wie in dieses Kausalnetz zum Nutzen des Kranken eingegriffen werden kann und es nach erfolgreicher pharmakologischer Forschung endlich auch tun.
Hippokrates’ und all seiner Nachfolger Fehler ist, daß sie den letzten Schritt vor dem ersten versucht haben, daran gescheitert sind und daran scheitern mußten.]
Platon sieht Krankheiten als Funktionsstörungen von Pneuma, Galle und Phlegma, Geisteskranheiten sind eine Folge schlechter Erziehung. Bei Diokles entsteht das Irresein durch die Entzündung des Zwerchfells, bei Praxagoras durch Entzündung des Herzens.
Etwa 100 v. Ch. läßt sich der griechische Arzt Asklepiades in Rom nieder und bringt so die griechische Medizin in die römische Welt. Bei ihm besteht der Mensch aus Atomen, die in Kanälen hin und her fließen, die Störung des Flusses macht die Krankheit. Sein Therapiemotto ist tuto, celeriter, iucunde - sicher, schnell, angenehm, und er gibt seiner reichen römischen Kundschaft nur angenehme Therapieempfehlungen. Man sieht, die gefällige Medizin ist keine Erfindung der Jetztzeit.
Der Römer Celsus (ca. 30 n. Ch.) hat den Ehrgeiz, das gesamte medizinische Wissen enzyklopädisch darzustellen, außer der Ätiologie. Galen (ca. 150 n. Ch.) restauriert die hippokratische Schule, die Säftelehre wird wieder modern, sie wird es bis ins späte Mittelalter bleiben. Das Interesse an der Erforschung der Ätiologie, das nie groß gewesen war, erlischt völlig, die Erforschung der Anatomie tritt in den Vordergrund und erst damit beginnen die ersten zarten Anfänge einer wissenschaftlichen Medizin.
Dann, Mitte des 16. Jahrhunderts, spaltet sich die Geschichte, hier beginnt mit Andreas Vesalius (De humani corporis fabrica, Basel 1543) das Schisma der Medizin, das 200 Jahre andauern wird. Die Anatomie trennt sich von der Medizin. Während letztere unbeirrt ihren spekulativen Irrweg fortsetzt, gehen die neuen Anatomen erstmals den Weg der Wissenschaft. Sie wollen nur beschreiben, was da ist, sie beginnen die Deskription des Menschen, die an die Stelle der Spekulation tritt, sie schaffen das, was die Ärzte immer schon hätten tun sollen, aber nie getan haben: Sie schaffen eine Datenbasis als Grundlage der wahren Wissenschaft vom Menschen, als Fundament der zukünftigen weiterführenden Theorie.
200 Jahre später endet das Schisma. Morgagni schafft die Synthese der beiden Wege, führt Krankheit als ‘klinisches Ereignis’ und Krankheit als pathoanatomische Organveränderung wieder zusammen, und aus der Synopsis von ‘klinischer’ Medizin und Pathoanatomie entsteht das neue einheitliche wissenschaftliche Krankheitsbild (Morgagni Giovanni Battista: De sedibus et causis morborum per anatomen indagatis. 1761 ).
Bei Hufeland (Ideen über Pathogenie, 1795) enstehen die Krankheiten, weil „die uns eingeborenen Lebenskraft sich im Laufe der Zeit und bedingt durch Umweltschäden systematisch abnutzt“ (Schipperges).
Hahnemann wiederum sieht bei den Ärzten seiner Zeit, dies wird deutlich an seiner Kritik der zeitgenössischen Medizin (Vorwort zum Organon, 1842), daß sie die Symptome an der Oberfläche für die eigentliche Krankheit halten und glauben, diese geheilt zu haben, wenn sie die Symptome durch äußere Anwendungen beseitigen.
Hahnemann selbst sieht Krankheit als ein innerliches Ereignis, eine Folge der gestörten Lebenskraft. „§. 11. Wenn der Mensch erkrankt, so ist ursprünglich nur diese geistartige, in seinem Organism überall anwesende, selbstthätige Lebenskraft (Lebensprincip) durch den, dem Leben feindlichen, dynamischen Einfluß eines krankmachenden Agens verstimmt; nur das zu einer solchen Innormalität verstimmte Lebensprincip, kann dem Organism die widrigen Empfindungen verleihen und ihn so zu regelwidrigen Thätigkeiten bestimmen, die wir Krankheit nennen...“ Das ist ein klares Bekenntnis zum Vitalismus.
90 Jahre später, um 1930, wird der englische Arzt Edward Bach aus der Homöopathie heraus sein eigenes Krankheitsbild entwickeln. Bach war zuerst Homöopath und arbeitete nach homöopathischen Prinzipien. Er kannte das Organon gut, er zitiert es ausführlich in seinem Vortrag über Die Wiederentdeckung der Psora (1928). Die vis vitalis wandelt sich zur Seele, alle Krankheiten entstehen aus der Verstimmung der Seele. „Krankheit ist der organische Niederschlag unserer Weigerung, uns der Führung durch unsere Seele zu überlassen“. „Organische Erkrankungen sind lediglich Folge eines Mißklangs zwischen Seele und Gemüt. Sie sind nichts als Symptome dieser Ursache, und da ein und dieselbe Ursache sich je nach Individuum ganz unterschiedlich manifestiert, gilt es zunächst diese Ursache zu beheben; die Begleiterscheinungen (sive organische Erkrankung) verschwinden dann ganz von selbst“. „Um es noch einmal zu wiederholen: Wir müssen uns völlig klarmachen, daß es auf unsere organischen Erkrankungen überhaupt nicht ankommt, entscheidend ist einzig und allein unser Gemütszustand (Befreie Dich selbst, 1932). (Sollte man aus diesen Zitaten den Eindruck gewinnen, Bach sei ein Vorreiter der Psychosomatik, dann täuscht das, er ist es nicht.)
Ganz im Gegensatz zu Hahnemann werden bei Bach die körperlichen Symptome völlig bedeutungslos, sowohl für die Diagnostik wie für die Therapie. So rühmt er sich, daß man sein System ganz ohne medizinische Kenntnisse erlernen könne, so daß jeder ein Heiler werden könne. Die Therapie richtet sich ausschließlich danach, welchem Typ der von Bach geschaffenen 7 Menschheitstypen der Kranke angehört.
Als Kuriosität werden wir noch das Krankheitsbild Steiners anhand der Tuberkulose demonstrieren: Die Lungenschwindsucht ist nur aus dem ganzen Menschen heraus auf diese Weise zu verstehen. Sie ist durchaus so zu verstehen, daß man sagt: In einer schwindsüchtigen Lunge strebt das Atmen dahin, denkend zu werden. Im Kopfe ist das Atmen nämlich metamorphosiert, und alle Funktionen des Denkens bis zum Verarbeiten der Wahrnehmungen sind nichts anderes als ein nach oben, also nach der Weiterentwicklung gestaltetes Atmen. Der Kopf ist ein vorgeschrittenes, ein über das Lungenmaß hinausgeschrittenes Atmungsorgan, das nur das Atmen zurückhält und an die Stelle der Luftaufnahme durch das Atmen die Aufnahme der ätherischen Kräfte durch die Sinne stellt (Vortrag 16.4.1921, S. 100f). Ein Kommentar erübrigt sich.
Nach Wolff, dem medizinischen Exegeten Steiners, hat die Anthroposophie ein klar umrissenes Krankheitsbild: Nach der umfassenden Menschenkunde, wie sie dem anthroposophischen Menschenbild zugrundeliegt, gibt es zwei große Gruppen von Krankheiten, die sich polar zueinander verhalten, d. h. sie stehen sich so gegenüber, daß sie sich gegenseitig die Waage halten. Es sind dies die entzündlichen - gemeint sind hochfieberhafte - Krankheiten, denen die sklerotischen Krankheiten gegenüberstehen, zu denen auch der Krebs und die Zuckerkrankheit gehören. Daß diese zwei Gruppen sich polar verhalten, besagt auch, daß sie sich gegenseitig aufheben können und im ständigen Wechselspiel miteinander stehen, wie es beim Waagebalken der Fall ist: Das Absinken einer Seite kann sowohl durch ein Übergewicht an dieser Stelle, wie auch ein fehlendes Gegengewicht auf der anderen Seite bedingt sein. So kann auch eine Krankheit oder ein Symptom erst dann wirklich verstanden werden, wenn man die betreffende Störung unter dem Aspekt des Gegenspielers sieht. - Der Mensch von heute ist allerdings gewöhnt, linear zu denken (Wolff a.a.O. S. 9).
Diese Einteilung aller Krankheiten in zwei große Gruppen ignoriert die ätiologische Vielfalt der Krankheiten, sie ist eine kümmerliche Naturbeschreibung, die der tatsächlich vorhandenen Komplexität nicht entfernt gerecht wird, eine adäquate Abbildung der realen Gegebenheiten ist so nicht möglich. Wenn die Viruserkrankungen beim Kinde einmal hochfieberhaft, ein andermal nur mit einem Anflug von Fieber ablaufen, ist die Zuordnung der Krankheit in diesem Beschreibungssystem nicht möglich. Die beiden Gruppen mögen noch so polar sein, es folgt aus dieser Einteilung keine wirkliche Erkenntnis. Auch wird nicht deutlich, was denn Gesundheit und Krankheit seien. Ist Gesundheit die Abwesenheit von Krankheit oder leidet der Mensch grundsätzlich an allen Krankheiten gleichzeitig, ist aber gesund, wenn diese sich die Waage halten? Wenn eine Krankheit, wie Wolff glaubt, nur aus ihrem Gegenspieler heraus verständlich wird, würde man eine entsprechende Zuordnung von Krankheiten erwarten: Ist die Hepatitis der Gegenspieler des Magenkarzinoms, die Nephritis der Gegenspieler des Diabetes? Und wie erklärt der Anthroposoph, daß der Diabetes eine Nephritis im Gefolge hat, daß aber das Magenkarzinom nicht zur Hepatitis führt?
Man könnte sagen: All dies ist eine Paraphrase der Wahrheit. Steiner wollte sagen, daß der Mensch den Keim aller Krankheiten in sich trägt. Aber wo bleibt dann die Polarität? Und irgendwie ist dieser Satz auch trivial. Nach meinem Dafürhalten ist der Satz falsch. Viele Krankheiten sind eine Interaktion zwischen einem Agens und dem biologischen System Mensch, was beim Tier pathogen ist, muß es beim Menschen nicht sein. Man vergleiche dazu meine Ausführungen zum Giftbegriff. Die Ärmlichkeit des anthroposophischen Krankheitsbegriffs erweist sich sofort, wenn man die allgemeinen Formulierungen mit konkreten Beispielen zum Leben erweckt.