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Autor Thema: Peter Zeller: 5. Teil: Allgemeine Untersuchungen  (Gelesen 2311 mal)

Glückspilz

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Peter Zeller: 5. Teil: Allgemeine Untersuchungen
« am: 28. November 2010, 04:50:33 »

[*QUOTE*]
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5. Teil: Allgemeine Untersuchungen


I.Zur soziologischen Bedeutung der Pseudomedizin


1. Die Frage nach den Kosten


   Von den Vertretern pseudomedizinischer Verfahren ist immer wieder behauptet worden, daß ihre Verfahren deutlich preisgünstiger seien als die der Schulmedizin, was unter dem Aspekt einer zunehmenden generalisierten Finanznot der Krankenversorgung ein Umschwenken auf die ‘biologische’ Linie geradezu fordere. Glaubwürdig ist das nicht. Denn Präparate wie Neytumorin, AF 2 oder die Klehrschen Zytokine sind ausnahmslos teuer. Klarheit bringt hier eine Dissertation an der Universität Ulm. Deren Ergebnis ist, daß bei gleicher Indikation die Pseudotherapien insgesamt deutlich teurer sind als die echten Therapien. Die preiswerte biologische Behandlung ist also eine Schimäre.

   Diese Rechnung gilt nur für den alternativen Einsatz. In letzter Zeit, angesichts der Problematik des validen Wirkungsnachweises, wird aber zunehmend heftig der additive oder komplementäre Einsatz gefordert.  Das hieße eine Verdopplung der Kosten in der Krankenversorgung, eine abrupte finanzielle Strangulierung der Krankenkassen.

   Aufwendungen für Pseudotherapien werden derzeit von den Krankenkassen nicht oder nur sporadisch erstattet, zur Zeit ist es eben ‘nur’ der Kranke, der von den cleveren Geschäftemachern ausgebeutet wird.

   Geschädigt wird er in zweifacher Hinsicht. Zum einen zahlt er für eine wirkungslose Pseudotherapie, zum andern verzichtet er auf die wirksame Therapie der Schulmedizin.

   Die Erstattungspolitik der Krankenkassen könnte sich aber ändern. Wenn aus einem falsch verstandenen Wettbewerbsgedanken heraus eine medieninduzierte und medienerpreßte scheinbar oder wirklich  populistische Entscheidung doch noch zu einer Entscheidung für die Erstattung der Pseudomedizin führt, beginnt für eine rationale Medizin, die jetzt schon budgetiert und rationiert wird, mangels Finanzmittel der sofortige Niedergang. Schon jetzt wird die Prothetik nicht mehr bezahlt, und in 30 Jahren wird die Zahngesundheit der dann älteren Deutschen auf Nachkriegsniveau gesunken sein, sie werden wie damals weitgehend ohne Zähne herumlaufen.


2. Die Irrationalisierung der Krankenversorgung

   Bürger, Medien und Vertreiber von Pseudoverfahren bilden ungewollt ein unsichtbares Netz von Interaktionen, die sich gegenseitig aufschaukeln und plötzlichen Druck auf die gesellschaftlichen Institutionen ausüben und so Fehlentscheidungen erzwingen können. Aber der uninformierte Bürger ist auch Opfer der Medien, die verantwortungslos die abstrusesten Erfolgsbehauptungen der Gesundheitsbetrüger unters Volk bringen, und der zusätzliche Seitenhieb auf den pfuschenden Halbgott in Weiß sorgt für weitere Schlagzeilen.

   Die zunehmende Irrationalisierung läß es mittlerweile als reale Möglichkeit erscheinen, daß selbsternannten Heilern, Schamanen, Hellsehern, Wahrsagern ein Weg in die Krankenversorgung eröffnet wird. Triumphierend wird uns England vorgehalten, wo die Geistheiler schon in den Kliniken sein sollen.

   Bei all dem fragt man sich, wozu eigentlich ein sechsjähriges Medizinstudium und eine zehnjährige Krankenhausausbildung notwendig waren.



3. Der Schaden am Patienten

   Doch bei all dem ist der Kranke der Dumme. Wenn die Krankenversorgung in diese Hände gerät, wenn die fachgerechte medizinische Versorgung dem Kranken versagt wird, entstehen irreparable Schäden; die Zahl der Rentenfrühfälle wird rapide ansteigen und sich der finanziellen Belastung der Gesellschaft durch die Alterspyramidenentwicklung hinzuaddieren.

   Es ist schon eigenartig. Sonst kümmert sich der Staat doch auch um den Schutz seiner Bürger. Dem Architekten schreibt er die Einrichtung von Treppengeländern vor (K. Zeller). Wir müssen uns im Auto per legem anschnallen. Der Staat schützt seine Bürger sogar dort, wo sie es gar nicht wollen. Aber ein Heilpraktiker darf ohne Ausbildung am Kranken tätig werden. Er muß nur volljährig und darf nicht vorbestraft sein.
   

4. Standort Deutschland

   Die Zunahme der Wissenschaftsfeindlichkeit ist allerorten zu beobachten und wird gefördert von der Verteufelung einer Medizin, die angeblich nur noch ihre technischen Möglichkeiten sieht und darüber den Kranken aus den Augen verliert. So medienwirksam diese Darstellung ist, so falsch ist sie auch. Gerade die größten Schreier verlangen sofort alle nur erdenkliche Technik, wenn ihnen durch Krankheit Gefahr droht.

   Unkritische Wissenschafts- und Forschungsgläubigkeit liegt mir fern.  Ein rohstoffarmes Land braucht Zukunftstechnologien, dazu gehören Medizintechnik und Gentechnik, sonst läuft es Gefahr, die wirtschaftlichen Grundlagen seiner demokratischen Ordnung zu verlieren. Anstatt Zukunftstechnologien nur aus irrationalen Gründen abzulehnen, sollte man sich wenigstens die Mühe einer sachlichen Prüfung der möglichen Gefahren machen.
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Glückspilz

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Peter Zeller: 5. Teil: Allgemeine Untersuchungen
« Antwort #1 am: 28. November 2010, 04:51:44 »

II. Die Wandlung des Symptombegriffs in der Geschichte

   Wenn der Mensch krank wird, ändert sich sein Zustand, er fühlt sich elend, die Temperatur steigt, das Herz klopft, das Hirn schmerzt, vielleicht verfärbt sich auch die Haut. Der Appetit verläßt ihn, er legt sich ins Bett und läßt den Arzt rufen.

   Die Krankheitszeichen lassen sich oberflächlich einteilen in die subjektiven, die nur der Kranke verspürt wie Appetitlosigkeit oder Schmerz, und in die  objektiven wie Temperaturanstieg, Pulsanstieg und Hautverfärbung. Man kann dies als eine klassische Einteilung ansehen, wie sie von den alten Ärzten benutzt wurde. Die alten Ärzte waren zur Ermittlung der Symptome auf ihre Hände und ihre fünf Sinne angewiesen, und zu Hahnemanns Zeiten hatte sich daran nichts geändert. Die Symptome waren das wesentliche, anderes hatte man nicht. Die Symptome waren so wesentlich, daß sie nicht mehr nur äußeres Erscheinungsbild der Krankheit waren, sie wurden mit der Krankheit gleichgesetzt, sie waren die Krankheit selbst. So sind, was verständlich ist, die alten Krankheitslehren als rein symptomorientierte Methoden konzipiert worden, die wechselnde Kombination der Symptome ist die jeweilige Krankheit. Wie diese Symptome tatsächlich zustandekommen, darüber konnte man sich keine Gedanken machen, weil das gesamte dazu notwendige Wissen fehlte.

   Die Gleichsetzung von Symptom und Krankheit kritisiert z. B. Hahnemann bei den zeitgenössischen Ärzten, die glaubten, diese geheilt zu haben, wenn sie die Symptome durch äußere Anwendungen beseitigen. Dies sei aber nur ein scheinbarer Erfolg, weil „das innere Übel nun schlimmer an einer edlern und bedenklichern Stelle auszubrechen genöthigt sei“.

   Ergänzend muß man sagen, daß die schließlich ergriffenen therapeutischen Maßnahmen sich nicht nach den Symptomen richteten, sondern nach dem Zufallsprinzip.   

   Hahnemanns eigener Symptombegriff ist nicht eindeutig. Einerseits sind die Symptome, „dieses nach außen reflectirende  Bild des innern Wesens der Krankheit, d. i. des Leidens der Lebenskraft“ (Organon § 7.), äußere Zeichen der inneren Krankheit, andererseits repräsentieren sie doch wieder die Krankheit, so daß das Verschwinden der Symptome bei seiner inneren Behandlung ein Beweis für die Abheilung der Krankheit ist: „§. 8. Es läßt sich nicht denken, auch durch keine Erfahrung in der Welt nachweisen, daß, nach Hebung aller Krankheitssymptome und des ganzen Inbegriffs der wahrnehmbaren Zufälle, etwas anderes, als Gesundheit, übrig bliebe oder übrig bleiben könne, so daß die krankhafte Veränderung im Innern ungetilgt geblieben wäre.“ Für Hahnemann gilt also der Schluß Krankheit bewirkt Symptom und auch der Umkehrschluß Kein Symptom, keine Krankheit.

   Allerdings haben Symptome bei Hahnemann eine neue erkenntnistheoretische Qualität in Richtung des Vitalismus, sie sind ein Appell an den Behandler, eine Stimme der Krankheit, die sagt Heile mich!, eine Stimme, die den Weg zur Heilung zeigt.

   Die Kritik an seinen Kollegen hindert endlich nicht daran, daß die Homöopathie der Epigonen zu einer rein symptomorientierten Methode wird. So braucht die Homöopathie keine Krankheitsdiagnose, ihr genügt die Symptomenkonstellation.

   Nach Hahnemann änderte sich das gründlich. Dem Aufschwung der Naturwissenschaften folgte der Aufschwung der Medizin, mit immer ausgefeilteren Verfahren gelang es, die Ätiologie und Pathogenese von immer mehr Krankheiten aufzuklären. Damit änderte sich auch das Verständnis der Symptome, sie werden sichtbare Zeichen unsichtbarer, aber meßbarer und damit objektivierbarer und kontrollierbarer Veränderungen. So ist der Durst ein Symptom beim Zuckerkranken. Die naive Medizin beläßt es dabei, die moderne Medizin erforscht das Symptom und kann es schließlich in eine Kausalkette einordnen: Maßgebend ist der Anstieg der Blutzuckerkonzentration (= meßbarer Parameter). Dadurch wird Zucker über die Niere ausgeschieden (= meßbarer Parameter). Damit Zucker ausgeschieden werden kann, benötigt er zusätzliches Wasser, die Harnmenge nimmt zu: Polyurie des Zuckerkranken. Der zusätzliche Wasserverlust löst über die erhöhte Osmolarität des Blutes  das Symptom Durst aus. Nach Entdeckung der Kausalkette müssen wir nun nicht mehr den schlecht quantifizierbaren Parameter Durst messen, uns genügt der sehr gut quantifizierbare Parameter Blutzuckerkonzentration.

   Mit der weiteren Entwicklung rücken diese meßbaren Parameter in den Vordergrund, die Symptome verlieren ihr ursprüngliches Gewicht und ihre führende Stellung, sie konnten noch als Leitsymptome erste Hinweise geben, genügten aber nicht mehr für eine adäquate Diagnostik. Das hieß nicht, daß man die Symptome nicht beachten sollte, es hieß aber entschieden, daß eine bloß symptomorientierte Diagnose unzureichend ist.

   Damit vollzieht sich ein erkenntnistheoretischer Wandel. Wurden die Symptome bisher nicht nur als Zeichen der Krankheit aufgefaßt, sondern mit der Krankheit selbst identifiziert, d. h. die Symptome waren identisch mit der Krankheit, sie waren die Krankheit, dann sind jetzt die Symptome nur noch zweitrangige Zeichen, die Spitze des Eisbergs einer Krankheit, die weit umfangreicher ist, als es die Symptome an der Oberfläche zu vermitteln vermögen.

   Die Homöopathie hat diese Entwicklung nicht mitgemacht. Sie hat ihr Symptomensystem weiter ausgebaut, die Symptome immer weiter unterteilt und verfeinert, so daß im Bereich der subjektiven Wahrnehmungen durch den Patienten ein riesiger Symptomenkatalog entstand. Dieser deckt sich nicht mehr mit den früheren Fünf-Sinne-Symptomen, und er deckt sich auch nicht mit den Symptomen der heutigen Medizin.

   Die Andersartigkeit der homöopathischen Symptome, verglichen mit denen der klinischen Medizin, illustrieren wir  mit Beispielen aus Schwabe, homöopathisches Repetitorium, 1954:
(1) Aethusa: Krampfdiathese bei Kindern mit Delirien, Reizbarkeit und soporösen Zuständen. Erbrechen von geronnener Milch, gelb-grüne schleimige Diarrhoe und Kollapsneigung. Verschlimmerung bei Sonnenhitze.
(2) Agaricus: Anfangs Erregung, dann Lähmung. Verwirrungszustände mit Schwatzhaftigkeit und Lachzwang. Rauschzustände. Heiße und kalte Schweiße, Wallungen. Diffuse Parästhesien wie Eisnadelprickeln, Muskelzuckungen allerorts. Verschlimmerung morgens, während der Menses und nach Exzessen.
(3) Apis: Schläfrigkeit, oedematöse Schwellungen, Durstlosigkeit, Unerträglichkeit von Wärme.
 
Abschließend noch ein Beispiel, wie ein Präparat bei ganz unterschiedlichen Krankheiten angewendet werden soll:
(1) Aurum: Stenocardie, Hypertension, Polyglobulie, Arteriosklerose, Folgen der Lues, Keratitis parenchymatosa, Herpes corneae, Ozaena, Depressionen, Melancholie. Z.N.S-Störungen verschiedenster Art. Drüsen- und Hodentuberkulose, Lupus. Myome. Prostatahypertrophie. Lebercirrhose.

Aurum ist metallisches Gold.

   Die Veränderung des Symptombegriffs ergab sich zwangsläufig aus dem Wissensfortschritt der Medizin. Die Ergebnisse der allgemeinen Pathologie haben gezeigt, daß die Reaktionsweisen des Körpers auf pathologische Noxen zahlenmäßig begrenzt sind. Die Zahl der möglichen Reaktionsweisen liegt dabei weit unter der Zahl der möglichen Noxen. Verschiedene Noxen können nur mit der gleichen Reaktionsweise beantwortet werden, so daß aus der Reaktionsantwort nie auf die tatsächliche Noxe geschlossen werden kann. Es gibt nur wenige Ausnahmen, die sogenannten spezifischen Reaktionsformen. So kann man nur aus der Tatsache der Verkäsung spezifisch auf das Tuberkelbakterium als Verursacher schließen.

   Wie vielfältige Ursachen zum gleichen Symptom führen können, zeigen wir am Syptom Durst:
1.körperliche Anstrengung ® ­Energieumsatz ® ­Körpertemperatur ® Transpiratio zur Abkühlung ® Wasserverlust ® ­Blutosmolarität ® Durst
2.Infekt = Bakterientoxine ® Verstellung Temperaturregler® ­Körpertemperatur ® Perspiratio ® Wasserverlust ® ­Blutosmolarität ® Durst
3.Insulinmangel ® ­Blutzucker ® passiert glomerulären Filter ® Polyurie: benötigt zusätzliches Wasser wegen Hygroskopie = Wassserverlust ® ­Blutosmolarität ® Durst
4.¯Adiuretin ® Konzentrationsstörung der Niere ® Diabetes insipidus = Wassserverlust ® ­Blutosmolarität ® Durst
5.Nierenschädigung ® Nephrose ® Konzentrationsstörung der Niere ® Polyurie Wassserverlust ® ­ Blutosmolarität ® Durst

   Alle Reaktionsfolgen beginnen unterschiedlich und münden dann in eine gemeinsame Endstrecke. In den Beispielen 3 bis 5 sind die Symptome Polyurie und Durst immer miteinander verknüpft. Im folgenden Beispiel ist das nicht der Fall:
6.Seelische Störung ® Trinkzwang = vermehrte       Flüssigkeitszufuhr ® Polyurie

   Auf solche Unterschiede gründet die Differentialdiagnose. Man sieht an den Beispielen, daß die kausale Therapie des Symptoms Durst auf ganz unterschiedliche Weise zu erfolgen hat.

   Erkenntnistheoretisch folgt aus der Diskrepanz zwischen der Anzahl der Ätiopathologien und der Anzahl der Symptome, daß die Sypmtome als Ausdruck ihrer zahlenmäßigen Begrenztheit nie das sehr viel größere Spektrum aller Krankheiten abdecken können, was wiederum  bedeutet, daß eine vollständige Krankheitsdiagnose allein aus den Symptomen nicht möglich ist. Zu Recht lehnt die Medizin derartige Versuche ab, die Homöopathen wollen dies jedoch nicht zur Kenntnis nehmen. Die Darstellung zeigt aber, daß die Homöopathie bei ihrer Diagnosefindung zwangsläufig auf die schiefe Bahn geraten muß.
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Peter Zeller: 5. Teil: Allgemeine Untersuchungen
« Antwort #2 am: 28. November 2010, 04:52:47 »

III. Die Wandlung des Krankheitsbegriffs in der Geschichte

   Die Unterscheidung von Gesundheit und Krankheit hat in den vergangenen zweitausend Jahren kein Problem dargestellt. Im naiven Weltbild war der Gesunde gesund, der Kranke krank - die beiden Zustände ließen sich leicht auseinanderhalten. Erst in der Moderne tritt das Problem auf:
1.In der parametrisierten Beschreibung des biologischen Systems kann die Frage nach krank oder gesund nur statistisch beantwortet werden oder muß durch eine dann immer in irgendeiner Form willkürliche Definition erzwungen werden.
2.Wenn die Festlegung von krank und gesund durch Definition zulässig ist, können auch Definitionen auftreten, die sich nicht auf die wissenschaftliche Komponente beschränken, sondern  diese um eine soziologische Komponente erweitern. Das bedeutet, daß dann in der Definition von gesund und krank soziologische Forderungen enthalten sind, die ja, wie wir bereits früher gezeigt haben, nicht Teil der Naturbeschreibung sind. Die Zulassung einer soziologische Komponente führt zwangsläufig zu einer Vielzahl von Definitionen, die widersprüchlich werden, wenn die soziologischen Forderungen gegensätzlich sind.

   Die alten Ärzte hatten damit kein Problem, und noch zu Zeiten Hahnemanns mußte man sich keine Gedanken darüber machen.

   In der Darstellung von Sournia ist in der vorgeschichtlichen Zeit der Herrscher zugleich Priester und Arzt. Diese Personalunion spaltet sich dann auf in den Herrscher einerseits und den Arzt-Priester andererseits. Die Nähe zur Religion ist also unverkennbar. Um so mehr erstaunt es dann, daß in dem Moment, als die Ärzte als Ärzte in der Geschichte auftreten, die Ursache von Krankheit nicht im Zorn der Götter oder in religiösen Verfehlungen, sondern in Veränderungen im Körper des Kranken gesucht werden.

   Dieses Phänomen, diesen Verzicht auf magische Erklärungsmodelle, wie er bei der hippokratischen Schule gezeigt werden kann, erklärt Topitsch damit, daß bei den Ärzten anders als bei den Philosophen und wie bei den Handwerkern der Erfolg ihres Tuns entscheidend war, den sie letztlich nur durch die Beachtung und Beobachtung der Realität, also durch eine von der Sache her erzwungene Hinwendung zur Empirie als des Kontrapunktes der Spekulation erzielen konnten. Topitsch sieht dabei wohl weniger, daß die Einordnung dessen, was als Beobachtung auftrat, in ein realistisches Beschreibungssystem gar nicht möglich war, weil dieses nicht existierte und das gesamte zu seinem Aufbau notwendige Basiswissen fehlte, so daß jede Einordnung doch wieder zufällig und spekulativ wurde und die unweigerlich daraus gezogenen Schlüsse zu falschen Ergebnissen führen mußten, was sich in der letztlichen Erfolglosigkeit der griechischen Medizin zeigt.

   Das Schwergewicht der griechischen Medizin, dies gibt Topitsch recht, liegt zweifellos auf der beschreibenden Darstellung von  Krankheitsabläufen und der Auflistung der als vorteilhaft erachteten Heilmaßnahmen, weniger in der Vermutung von Krankheitsursachen, die nicht oder nur beiläufig angesprochen werden. Dann wird die Schwindsucht mit dem Verderb des Phlegmas erklärt oder mit dem Eindringen von Blut und Galle in das Rückenmark. Grundlage solcher Erklärungen ist die Säftelehre  (ca. 400 v. Ch.), wo Ungleichgewicht von Phlegma, Blut, gelber und schwarzer Galle zur Krankheit führt, später ist es in der Lehre von den Temperamenten die falsche Mischung aus phlegmatischem, sanguinischem, cholerischem und melancholischem Temperament.

   Wenn Sournia in seiner abschließenden Bewertung der hippokratischen Schule (S. 343) sagt: „Dennoch gilt für uns, die wir um das Grundsätzliche bemüht sind, Hippokrates als in die Zukunft weisender Arzt, als Vorläufer aller heute nur weiter differenzierten Spezialwissenschaften der Medizin. Trotz vereinzelter Fehleinschätzungen war er ein an der Erfahrung orientierter, wahrhaft wissenschaftlicher Gelehrter“, dann können wir dieser Einschätzung überhaupt nicht zustimmen; das genaue Gegenteil ist der Fall. Die vollständige Wandlungen der Begriffe Wissenschaft und Erfahrung, die ein Erfolg des modernen Weltbilds sind und die mit ihren Vorläuferbegriffen nichts, aber auch gar nichts gemein haben, wird hier negiert, das moderne Weltbild auf eine bloße Weiterdifferenzierung reduziert. Hippokrates’ Erfahrungs- und Wissenschaftsverständnis ist von dem unseren so weit entfernt wie die sprichwörtliche Kuh von der Atomphysik.

   Hippokrates, so er als geschichtliche Person existierte - sonst gilt dies für die Ärzte, die die hippokratische Schule bildeten - war sicher ein Ehrenmann. Als Mensch mag er Vorbild gewesen sein in seiner Bereitschaft, Kranken helfen zu wollen. Ernüchternd muß man aber feststellen, daß Wollen allein nicht genügt.

   Hippokrates mag aus seiner Sicht Empiriker gewesen sein. Doch ist bei ihm der Begriff eine Leerformel. Was nützen wenige Daten, wenn sie nicht in ein System, in ein Netz kausaler Beziehungen eingeordnet werden können, weil dieses noch gar nicht geschaffen wurde. Daten ohne Ordnung sind sinnlos; schädlich sind sie, weil sie scheinbar berechtigt zu Schlüssen verleiten, die notwendig falsch sind. Das war nicht seine Schuld. Die Therapie, deren Erfolg den ganzen Sinn der Medizin ausmacht, war bei ihm ein Lotteriespiel, auf scheinbaren Begründungen aufgebaut.

   Es ist nicht möglich, in einem biologischen System Entscheidungen zu treffen, wenn nur ein Bruchteil der Daten dieses Systems bekannt ist. Entscheidungen sind dann nicht wirklich Entscheidungen, sondern willkürliche Handlungen, die bestenfalls einen Zufallstreffer erzielen können.

   Weil sich die damalige und die heutige Medizin fundamental unterscheiden, ist es nicht richtig und wissenschaftlich unlauter, Hippokrates als einen wahren Vorläufer der heutigen Medizin und die moderne Medizin als eine bloße Weiterentwicklung und Weiterdifferenzierung der alten Medizin darzustellen.

   Wissenschaft beginnt mit dem Sammeln von Daten: 1. Schritt, Phase der Deskription. Erst wenn eine große Zahl von Daten vorhanden ist, können ihre Beziehungen zueinander untersucht werden: 2. Schritt, Phase des Experiments. Deren Darstellung als Kausalnetz (monokausal, plurikausal, statistisch gesetzmäßig) ist der 3. Schritt: Phase der Theorie. Zuletzt, im 4. Schritt, können wir darüber nachdenken, wie in dieses Kausalnetz zum Nutzen des Kranken eingegriffen werden kann und es nach erfolgreicher pharmakologischer Forschung endlich auch tun.

   Hippokrates’ und all seiner Nachfolger Fehler ist, daß sie den letzten Schritt vor dem ersten versucht haben, daran gescheitert sind und daran scheitern mußten.]

   Platon sieht Krankheiten als Funktionsstörungen von Pneuma, Galle und Phlegma, Geisteskranheiten sind eine Folge schlechter Erziehung. Bei Diokles entsteht das Irresein durch die Entzündung des Zwerchfells, bei Praxagoras durch Entzündung des Herzens.

   Etwa 100 v. Ch. läßt sich der griechische Arzt Asklepiades in Rom nieder und bringt so die griechische Medizin in die römische Welt. Bei ihm besteht der Mensch aus Atomen, die in Kanälen hin und her fließen, die Störung des Flusses macht die Krankheit. Sein Therapiemotto ist tuto, celeriter, iucunde - sicher, schnell, angenehm, und er gibt seiner reichen römischen Kundschaft nur angenehme Therapieempfehlungen. Man sieht, die gefällige Medizin ist keine Erfindung der Jetztzeit.

   Der Römer Celsus (ca. 30 n. Ch.) hat den Ehrgeiz, das gesamte medizinische Wissen enzyklopädisch darzustellen, außer der Ätiologie. Galen (ca. 150 n. Ch.) restauriert die hippokratische Schule, die Säftelehre wird wieder modern, sie wird es bis ins späte Mittelalter bleiben. Das Interesse an der Erforschung der Ätiologie, das nie groß gewesen war, erlischt völlig, die Erforschung der Anatomie tritt in den Vordergrund und erst damit beginnen die ersten zarten Anfänge einer wissenschaftlichen Medizin.

   Dann, Mitte des 16. Jahrhunderts, spaltet sich die Geschichte, hier beginnt mit Andreas Vesalius (De humani corporis fabrica, Basel 1543) das Schisma der Medizin, das 200 Jahre andauern wird. Die Anatomie trennt sich von der Medizin. Während letztere unbeirrt ihren spekulativen Irrweg fortsetzt, gehen die neuen Anatomen erstmals den Weg der Wissenschaft. Sie wollen nur beschreiben, was da ist, sie beginnen die Deskription des Menschen, die an die Stelle der Spekulation tritt, sie schaffen das, was die Ärzte immer schon hätten tun sollen, aber nie getan haben: Sie schaffen eine Datenbasis als Grundlage der wahren Wissenschaft vom Menschen, als Fundament der zukünftigen weiterführenden Theorie.

   200 Jahre später endet das Schisma. Morgagni schafft die Synthese der beiden Wege, führt Krankheit als ‘klinisches Ereignis’ und Krankheit als pathoanatomische Organveränderung wieder zusammen, und aus der Synopsis von ‘klinischer’ Medizin und Pathoanatomie entsteht das neue einheitliche wissenschaftliche Krankheitsbild (Morgagni Giovanni Battista: De sedibus et causis morborum per anatomen indagatis. 1761 ).

   Bei Hufeland (Ideen über Pathogenie, 1795) enstehen die Krankheiten, weil „die uns eingeborenen Lebenskraft sich im Laufe der Zeit und bedingt durch Umweltschäden systematisch abnutzt“ (Schipperges).

   Hahnemann wiederum sieht bei den Ärzten seiner Zeit, dies wird deutlich an seiner Kritik der zeitgenössischen Medizin (Vorwort zum Organon, 1842), daß sie die Symptome an der Oberfläche für die eigentliche Krankheit halten und glauben, diese geheilt zu haben, wenn sie die Symptome durch äußere Anwendungen beseitigen.

   Hahnemann selbst sieht Krankheit als ein innerliches Ereignis, eine Folge der gestörten Lebenskraft. „§. 11. Wenn der Mensch erkrankt, so ist ursprünglich nur diese geistartige, in seinem Organism überall anwesende, selbstthätige Lebenskraft (Lebensprincip) durch den, dem Leben feindlichen, dynamischen Einfluß eines krankmachenden Agens verstimmt; nur das zu einer solchen Innormalität verstimmte Lebensprincip, kann dem Organism die widrigen Empfindungen verleihen und ihn so zu regelwidrigen Thätigkeiten bestimmen,  die wir Krankheit nennen...“ Das ist ein klares Bekenntnis zum Vitalismus.

   90 Jahre später, um 1930, wird der englische Arzt Edward Bach aus der Homöopathie heraus sein eigenes Krankheitsbild entwickeln. Bach war zuerst Homöopath und arbeitete nach homöopathischen Prinzipien. Er kannte das Organon gut, er zitiert es ausführlich in seinem Vortrag über Die Wiederentdeckung der Psora (1928). Die vis vitalis wandelt sich zur Seele, alle Krankheiten entstehen aus der Verstimmung der Seele. „Krankheit ist der organische Niederschlag unserer Weigerung, uns der Führung durch unsere Seele zu überlassen“. „Organische Erkrankungen sind lediglich Folge eines Mißklangs zwischen Seele und Gemüt. Sie sind nichts als Symptome dieser Ursache, und da ein und dieselbe Ursache sich je nach Individuum ganz unterschiedlich manifestiert, gilt es zunächst diese Ursache zu beheben; die Begleiterscheinungen (sive organische Erkrankung) verschwinden dann ganz von selbst“. „Um es noch einmal zu wiederholen: Wir müssen uns völlig klarmachen, daß es auf unsere organischen Erkrankungen überhaupt nicht ankommt, entscheidend ist einzig und allein unser Gemütszustand (Befreie Dich selbst, 1932). (Sollte man aus diesen Zitaten den Eindruck gewinnen, Bach sei ein Vorreiter der Psychosomatik, dann täuscht das, er ist es nicht.)

   Ganz im Gegensatz zu Hahnemann werden bei Bach die körperlichen Symptome völlig bedeutungslos, sowohl für die Diagnostik wie für die Therapie. So rühmt er sich, daß man sein System ganz ohne medizinische Kenntnisse erlernen könne, so daß jeder ein Heiler werden könne. Die Therapie richtet sich ausschließlich danach, welchem Typ der von Bach geschaffenen 7 Menschheitstypen der Kranke angehört.

   Als Kuriosität werden wir noch das Krankheitsbild Steiners anhand der Tuberkulose demonstrieren: Die Lungenschwindsucht ist nur aus dem ganzen Menschen heraus auf diese Weise zu verstehen. Sie ist durchaus so zu verstehen, daß man sagt: In einer schwindsüchtigen Lunge strebt das Atmen dahin, denkend zu werden. Im Kopfe ist das Atmen nämlich metamorphosiert, und alle Funktionen des Denkens bis zum Verarbeiten der Wahrnehmungen sind nichts anderes als ein nach oben, also nach der Weiterentwicklung gestaltetes Atmen. Der Kopf ist ein vorgeschrittenes, ein über das Lungenmaß hinausgeschrittenes Atmungsorgan, das nur das Atmen zurückhält und an die Stelle der Luftaufnahme durch das Atmen die Aufnahme der ätherischen Kräfte durch die Sinne stellt (Vortrag 16.4.1921, S. 100f). Ein Kommentar erübrigt sich.

   Nach Wolff, dem medizinischen Exegeten Steiners, hat die Anthroposophie ein klar umrissenes Krankheitsbild: Nach der umfassenden Menschenkunde, wie sie dem anthroposophischen Menschenbild zugrundeliegt, gibt es zwei große Gruppen von Krankheiten, die sich polar zueinander verhalten, d. h. sie stehen sich so gegenüber, daß sie sich gegenseitig die Waage halten. Es sind dies die entzündlichen - gemeint sind hochfieberhafte - Krankheiten, denen die sklerotischen Krankheiten gegenüberstehen, zu denen auch der Krebs und die Zuckerkrankheit gehören. Daß diese zwei Gruppen sich polar verhalten, besagt auch, daß sie sich gegenseitig aufheben können und im ständigen Wechselspiel miteinander stehen, wie es beim Waagebalken der Fall ist: Das Absinken einer Seite kann sowohl durch ein Übergewicht an dieser Stelle, wie auch ein fehlendes Gegengewicht auf der anderen Seite bedingt sein. So kann auch eine Krankheit oder ein Symptom erst dann wirklich verstanden werden, wenn man die betreffende Störung unter dem Aspekt des Gegenspielers sieht. - Der Mensch von heute ist allerdings gewöhnt, linear zu denken (Wolff a.a.O. S. 9).  

   Diese Einteilung aller Krankheiten in zwei große Gruppen ignoriert die ätiologische Vielfalt der Krankheiten, sie ist eine kümmerliche Naturbeschreibung, die der tatsächlich vorhandenen Komplexität nicht entfernt gerecht wird, eine adäquate Abbildung der realen Gegebenheiten ist so nicht möglich. Wenn die Viruserkrankungen beim Kinde einmal hochfieberhaft, ein andermal nur mit einem Anflug von Fieber ablaufen, ist die Zuordnung der Krankheit in diesem Beschreibungssystem nicht möglich. Die beiden Gruppen mögen noch so polar sein, es folgt aus dieser Einteilung keine wirkliche Erkenntnis. Auch wird nicht deutlich, was denn Gesundheit und Krankheit seien. Ist Gesundheit die Abwesenheit von Krankheit oder leidet der Mensch grundsätzlich an allen Krankheiten gleichzeitig, ist aber gesund, wenn diese sich die Waage halten? Wenn eine Krankheit, wie Wolff glaubt, nur aus ihrem Gegenspieler heraus verständlich wird, würde man eine entsprechende Zuordnung von Krankheiten erwarten: Ist die Hepatitis der Gegenspieler des Magenkarzinoms, die Nephritis der Gegenspieler des Diabetes? Und wie erklärt der Anthroposoph, daß der Diabetes eine Nephritis im Gefolge hat, daß aber das Magenkarzinom nicht zur Hepatitis führt?

   Man könnte sagen: All dies ist eine Paraphrase der Wahrheit. Steiner wollte sagen, daß der Mensch den Keim aller Krankheiten in sich trägt. Aber wo bleibt dann die Polarität? Und irgendwie ist dieser Satz auch trivial. Nach meinem Dafürhalten ist der Satz falsch. Viele Krankheiten sind eine Interaktion zwischen einem Agens und dem biologischen System Mensch, was beim Tier pathogen ist, muß es beim Menschen nicht sein. Man vergleiche dazu meine Ausführungen zum Giftbegriff. Die Ärmlichkeit des anthroposophischen Krankheitsbegriffs erweist sich sofort, wenn man die allgemeinen Formulierungen mit konkreten  Beispielen zum Leben erweckt.
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« Antwort #3 am: 28. November 2010, 04:53:56 »

IV. Das moderne Krankheitsbild

   Bereits 1961 klagt Arthur Jores: Obwohl die Basis der heutigen Medizin die Krankheitsbilder sind, ist diese Medizin nicht in der Lage gewesen, eine befriedigende und allgemeingültige Definition dessen zu geben, was eigentlich Krankheit ist und als solche zu gelten hat. Auch K. Sadegh-Zadeh (Krankheitsbegriffe und nosologische Systeme. Metamed 1, 1977) beklagt sich, die Medizin habe seiner Erkenntnis nach überhaupt keinen Krankheitsbegriff. Beide, Jores und  Sadegh-Zadeh erwarten offenbar einen kurzen, griffigen Begriff in Form einer Definition - das gibt es tatsächlich nicht. In den Lehrbüchern findet man derartiges nicht, denn die Lehrbücher sind zumeist Lehrbücher der Spezialdisziplinen, die, wenn überhaupt, das Thema mit wenigen Sätzen abtun. Es gab und gibt aber durchaus eine Literatur zum Thema (vgl. Rothschuh).

   Es braucht nicht betont zu werden, daß sich die Theorie der Medizin aus der Anwendung der Naturwissenschaften auf die Medizin ergibt.

   Die Begriffe Gesundheit und Krankheit können aus dem abgeleitet werden, was ich die Parametrisierung des biologischen Systems nenne. Die Parametrisierung ist beispielhaft am einzelnen System möglich, für die Allgemeingültigkeit sind dann statistische Methoden erforderlich, worauf wir später noch eingehen werden. Die Parametrisierung erfaßt das ganze biologische System Mensch unabhängig, ob krank oder gesund, liefert aber unterschiedliche Resultate je nachdem, ob krank oder gesund, so daß eine Differenzierung der beiden Zustände so erfolgt, daß eine Unterscheidung möglich wird.

   Der Zustand des biologischen Systems Mensch zum Zeitpunkt t läßt sich als ZMensch(t) durch Auflistung aller existierender Paramter und ihrer Werte beschreiben.

A sei die Gesamtheit aller Parameter, es gilt

(1)      A = {A1..Ai}

Für die konkreten Werte gilt ebenso

(1a)   WA = {a1..ai}

Für die Gesamtheit der Beziehungen zwischen den Parametern gilt in analoger Weise

(2)      B = {B1..Bk}

(2a)   WB = {b1..bk}

Dann gilt

(3)       ZM(t) =  {A1..Ai, B1..Bk}t
(3a)   WM(t) = {a1..ai, b1..bk}t  

Diese Parametrisierung unterscheidet nicht zwischen verschiedenen Menschen, sie individualisiert nicht, sondern wird als grundlegende Beschreibung des Systems Mensch verstanden, sie trennt aber das System Mensch z. B. vom System Hund.

   Eine derartige komplette Auflistung sämtlicher verfügbaren Parameter erscheint natürlich nicht konkret durchführbar. Für manchen wird dieses Programm überhaupt utopisch scheinen, tatsächlich wird diese Auflistung aber in den Spezialdisziplinen bereits gemacht, indem die Auflärung der molekularen Abläufe immer weiter vorangetrieben wird. Wesentlich sind dann schließlich die relevanten Parameter, soweit die Krankheitsfeststellung betroffen ist. Die Relevanz wird dabei nicht durch Definition oder Übereinkunft festgelegt, wie Kuhn das vorschwebt - sie muß für jeden einzelnen Parameter im Experiment, also letzlich durch die Prüfung an der Natur, bestimmt werden. Im Endeffekt sehen wir uns in der vorteilhaften Lage, bei der Krankheitsfestlegung mit einer verkürzten Parameterliste auszukommen.

    Die Parametrisierung trennt die Spezies von der Spezies, aber sie individualisiert nicht innerhalb der Spezies, wie es der interindividuellen Kontinuität zufolge sein muß. Sie trennt auch nicht Gesundheit von Krankheit. Dazu bedarf es zusätzlicher Methoden statistischer Art.

   Am besten läßt sich das am Parameter Blutzucker erklären. Es gibt keinen Weg, durch innere Schau den ‘normalen’ Blutzuckerwert festzulegen. Man nimmt eine möglichst große Zahl von Probanden, mißt den Wert und trägt ihn als Häufigkeitsverteilung auf. Man erhält eine typische Glockenkurve und kann jetzt einen Bereich zu beiden Seiten des Gipfels als vorläufigen Normbereich festlegen. Anschließend muß man die Grenzen des Bereichs daraufhin untersuchen, ob ihre Überschreitung zu einer Änderung anderer Parameter führt. Dieses Verfahren muß man für jeden Parameter durchführen. Krankheit ergibt sich dann als ‘wesentliche’ Abweichung der Parameter,  wobei ‘wesentlich’ durch die Experimente mit abweichender Entwicklung, z. B. schnelle Zerstörung der Leberzellen durch Tetrachlorkohlenstoff, festgelegt wird.

Wir werden die Parametrisierung am Beispiel des Verschlußikterus durchexerzieren:
ZPatient(t)   = {P1..Pn}
ZMeier(1.1.98)   = {... gGT, AP, indir. Bili, dir. Bili, Weite d. Gallengangs ...}

WMeier(1.1.98) = {...­400, ­360, =0.8, ­7, ¯0}

PGallengang = {Weite d. Gallengangs} läßt sich nun erweitern zu
   PGallengang = {Gallenstein, Gallengang-Ca, Pankreaskopf-Ca}

Die Untersuchung mit Röntgen, ERCP, Laparoskopie, CT ergibt
   WGallengang = {0,0,1}
d. h. Ursache ist ein Pankreaskopfkarzinom.

   Zwischen den Parametern bestehen dabei vielfältige Kausalbeziehungen, so daß aus Parameterkonstellationen weitere Parameterwerte gefolgert werden können, ohne daß man sie untersuchen müßte. Aus der Konstellation der Leberenzyme kann so geschlossen werden, daß die Störung im hepatischen und nicht im hämatopoetischen System liegt, so daß das hämatopoetische System nicht untersucht werden muß. Darauf beruht die Differentialdiagnose der Medizin.

   Die Parametrisierung ist nur möglich, weil in der Vergangenheit eine schon unermeßlich große Zahl von Parametern identifiziert und nach jeder Richtung experimentell und klinisch geprüft wurde. Nur in diesem überaus komplexen Netzgefüge lassen sich Gesundheit und Krankheit sichtbar machen, nicht in schönen Spekulationen oder Definitionen.



   Ich möchte die wesentlichen Thesen noch einmal zusammenfassen:

1.Die Parametrisierung nach dem Parameter trennt die Spezies von der Spezies.

2.Die Parametrisierung nach dem Parameter-Wert trennt einerseits die Spezies von der Spezies, als man aus dem Auftreten bestimmter Wertbeträge auf die Spezies schließen kann, andererseits das Individuum vom Individuum, als ein ganz bestimmtes biologisches System beschrieben wird.

3.Die Differenzierung in gesundes und krankes biologisches System erfolgt über die oben beschriebenen statistischen Untersuchungen der Verteilung der Parameterwerte.


   Es gibt noch ein weiteres Verfahren, um zu einer Unterscheidung von gesund und krank zu kommen. Nachteilig ist m. E., daß dabei  gesund und krank zu Werturteilen werden.

   Setzt man, daß ein langes Leben erstrebenswert ist (Werturteil), dann kann man für jede Parameterkonstellation die damit verbundene Lebenserwartung messen. Gesund ist demnach die Parameterkonstellation mit der längsten Lebenserwartung. Auch hier ist das statistische Vorgehen unvermeidlich.

   Zum Abschluß möchte ich noch auf den Begriff der symptomatischen Therapie eingehen.

   Wenn das Symptom die Krankheit ist, dann ist es legitim, direkt das Symptom zu bekämpfen, die erfolgreiche Behandlung des Symptoms als erfolgreiche Behandlung der Krankheit zu verstehen; daß das Symptom die Krankheit ist, war die falsche Annahme, die zum falschen Schluß führt.

   Weil der Gallengang verschlossen ist, kommt es zum Anstieg des Bilirubins und zur Gelbfärbung der Haut (Ikterus). Gangverschluß und Bilirubinanstieg sind die Krankheit, der Ikterus ist lediglich Ausdruck des erhöhten Bilirubins, ein sekundäres Ereignis, aus dem nichts mehr folgt. Der Bilirubinanstieg als Information genügt, die Tatsache, daß ein Ikterus vorliegt, bringt kein Mehr an Information.

   Heute versteht man unter einer symptomatischen Therapie meist das Herumdoktern an Symptomen in einem pejorativen Sinn. Die bloß symptomatische Therapie ist dennoch dann berechtigt, wenn das Grundleiden nicht therapierbar ist, der Patient an den Symptomen aber leidet. Bei den Kinderkrankheiten leiden die Kinder vor allem unter dem hohen Fieber, da ist die Gabe eines Antipyreticums sinnvoll - vor allem sollte man Kinder nicht leiden lassen. Juckreiz kann extrem quälend sein, ohne daß man eine Ursache findet, die Ausgangspunkt einer kausalen Therapie sein könnte; die symptomatische Therapie bringt dem Kranken wenigstens Erleichterung.
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Würde ich von Licht leben,
müßte ich grün sein.